Zeitzeugenarchiv der Minsker Geschichtswerkstatt

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Chamicevič Anna

Chamicevič Anna

Gruppe 
Gerechte unter den Völkern
Herkunftsland 
Belarus
Geburtsort 
Kočev, Kreis Soligorsk
Beruf 
-
Unterbringung/Inhaftierung 
-
Schicksal 
»Gerechte unter den Völkern«
Berichtsart 
Familiengeschichte

Das Vorkriegsleben

Anna Chamicevič wurde am 17. Dezember 1925 in der Siedlung Kočev des Kreises Soligorsk des Gebiets Minsk geboren. Annas Eltern Paraska Stepanovna, geborene Čerkas, und Grigorij arbeiteten in der Landwirtschaft. Die Familie hatte vier Kinder, alle Mädchen. Anna erinnerte sich, dass ihre Familie vor dem Krieg keine Probleme mit der Ernährung hatte, aber nachdem die Staatsorgane 1935 der Familie das Vieh entnahmen und sie zur Arbeit im Kolchos zwangen, begannen die Schwierigkeiten mit der Essensversorgung. Im Dorf, in dem Annas Familie wohnte, gab es eine Bäckerei, eine Schule, ein Krankenhaus mit der Entbindungsstation, ein Butterwerk, einen Dorfrat, ein Lebensmittelgeschäft. Die Dorfbevölkerung war ziemlich groß im Vergleich zu den anderen Orten in der Umgebung. Die Familien waren kinderreich, besonders belarussische Familien. Im Durchschnitt hatten die Familien drei-vier Kinder.

Vor dem Krieg schloss Anna nur zwei Klassen der Schule ab, die sich in ihrem Dorf befand. 1939 erkrankte Annas Mutter Paraska sehr schwer. Anna sollte ihr Lernen in der Schule abbrechen und begann, ihre kranke Mutter zu pflegen. Aber trotz ihrer Bemühungen starb die Mutter bald. Nach einiger Zeit heiratete Grigorij zum zweiten Mal. Anfang der 1940-en Jahre starb eine der Annas Schwestern an Tuberkulose.

Im Dorf Kočeva gab es sehr viele Vertreter der jüdischen Nationalität. Die Juden und Belarussen leben nebeneinander konfliktlos. Die jüdischen und belarussischen Kinder gingen in die gleiche Schule. Die Kinder waren Freunde untereinander. Viel Zeit verbrachten die jüdischen Mädchen im Haus von Chamicevičs und spielten zusammen mit Anna. Miteinander sprachen die Juden Jiddisch. Wenn aber dabei nur ein Belarusse war wechselten sie zu Belarussischen. Die Juden folgten ihren religiösen Traditionen: sie beteten und buken Matze.

Die Besatzung und Rettung der Juden

Vom Beginn des Krieges teilte ein Nachbar der Familie mit. An jenem Tag war Anna nicht zu Hause, sie war im Wald und sammelte Beere mit ihrer Freundin. Auf dem Weg nach Hause hielten die deutschen Soldaten sie an, suchten sie durch und ließen nach Hause. Als Anna nach Hause zurückkam, sah sie, dass alle im Dorf gewohnten Juden in ihrem Hof versammelt wurden. Einige ansässige Bewohner zusammen mit den deutschen Soldaten versuchten auszufinden, wo sie vor dem Herkommen der Deutschen ihre Wertsachen – vor allem das Gold ‑ versteckt hatten. Einer der verhörten Juden bat den Hausherrn Grigorij um Feuer, um eine Zigarette anzuzünden. Als Annas Vater auf die Bitte einging, wurde er von einem der Soldaten geprügelt. Ohne eine Antwort von den Juden bekommen zu haben, führte man sie zum Dorfrand und zwang sie, sich selbst eine Grube zu graben. Nachdem die Grube fertig war, stellte man die Männer und Frauen vor dieser Grube auf und erschoss sie aus der Maschinengewehr. Einige, in die man schoss, wurden nicht sofort ermordet, diese Leute wurden lebendig zusammen mit ihren erschossenen Nachbarn und Verwandten begraben.

Wenige Juden hatten Glück, der Hinrichtung am Beginn des Krieges zu entrinnen. Eine Frau namens Nesja mit ihrer Tochter Bronja fand einen Unterschlupf im Hause von Chamicevičs. Bronja war Jahrgang 1923. Zum Zeitpunkt der beschriebenen Ereignisse war sie 18 Jahre alt. Die Belarussen versteckten die Juden in ihrem Stall. Sie gaben ihnen zu essen, was sie auf eigenem Tisch hatten. Das Mädchen lebte so bei Chamicevičs sechs Wochen. In der siebten Woche ihres Aufenthalts wurde Bronja einer Frau aufgefallen, die nicht weit davon lebte. Als die Nachbarin am Mädchen die Jüdin Bronja erkannte, begann die Frau in selben Blick sie zu bedrohen, dass sie den Polizisten davon erzählt.

Bald kamen die Polizisten wirklich. Sie fanden heraus, dass drei Juden im Haus verborgen waren. In diesem Augenblick kam bei Chamicevičs ihr Nachbar Vasilij vorbei, der kurz davor Nesja und Bronja geholfen und die Lebensmittel für sie verschafft hatte. Als er begriff, dass die Frauen im nächsten Augenblick eingenommen wurden, beschloss er, wenigstens Bronja zu retten, und sagte, sie wäre seine Tochter. Die Polizisten glaubten ihm und ließen Bronja los. Nesja wurde an diesem Tag erhängt.

Im Jahre 1942 erhielten die deutschen Soldaten einen Befehl, den Ort Kočeмa zu vernichten. Alle Dorfbewohner wurden im Schulgebäude versammelt und verbrannt. In jenem Gebäude befanden sich zu dem Moment etwa 230 der ansässigen Bewohner. Annas 8-jährige Schwester Lena überlebte diese Vernichtungsaktion nicht. Abgesehen davon, dass die Dorfbewohner im Schulgebäude lebendig verbrannt wurden, wurden auch andere Häuser im Dorf vernichtet. Die Überlebenden gingen in den Wald und bauten sich dort die Erdhütten. Die Dorfbewohner versteckten sich in einem Bezirk, den sie eine "Insel" nannten. Dieser Ort befand sich tief im Wald auf einer der Sümpfe. Es war sehr schwer, im Wald zu überwintern, aber der Familie Chamicevič halfen die Getreidevorräte, die Grigorij vor der Vernichtung des Dorfes vergraben hatte. Weiter ernährte sich die Familie davon, was sie früher versteckt hatten. Sie aßen auch die Enteneier, die Annas Vater im Wald fand.

Im Jahre 1944, als sich die Deutschen zurückzogen, begegnete Anna im Wald einem deutschen Soldaten. Er hatte sich im Wald verlaufen und war auf den Ort gegangen, an dem die Belarussen in ihren Erdhütten lebten. Der Soldat war sehr erschöpft und hungrig. Anna wollte dem Mann helfen. Sie ging zu sich in die Erdhütte, nahm dort paar Stücke von Hartbrot und melkte Milch für den Deutschen. Als sie zum Soldaten zurückkam, freute er riesig darüber, er erzählte ihr von seiner Familie in Deutschland, zeigte die Fotos von seinen Verwandten. Nach einem kurzen Gespräch kam das Mädchen in die Erdhütte zurück, und der Soldat ging seine Truppe weitersuchen.

Leben nach dem Krieg

Nach dem Krieg heiratete Bronja und brachte drei Kinder auf die Welt. Anna heiratete auch. Später trafen sich Anna und Bronja einige Male.

Erstellt von Valentin Dragin