"Lebt wohl, meine Kinder!". Lebensgeschichte von Marija Sotnikowa
Nikita Kurulenko, Igor Malaschtschenko, Klasse 11, Oberschule Nr. 1, Tscherikow
Wissenschaftlicher Betreuer: Wassili Maximenko, Geschichtslehrer, Oberschule Nr. 1, Tscherikow
Einleitung
Während eines heimatkundlichen Ausflugs im Jahr 2016 besuchten wir einen in der Stadt Tscherikow und der Umgebung bekannten Ort nicht weit von der Stadt, an dem in den Jahren des Krieges friedliche Zivilisten, Partisanen und Untergrundkämpfer erschossen wurden. Zu dem dort errichteten Denkmal kommen manchmal Hochzeitspaare, um Blumen niederzulegen und der Ermordeten zu gedenken. (Anm.: Ein Ritual aus der Sowjetzeit: am Tag der Hochzeit besuchen die Neuvermählten ein Denkmal für die gefallenen Kriegshelden, um ihnen für die Möglichkeit ihres heutigen Glücks zu danken.) Bei der Betrachtung des Denkmals irritierte uns, dass keine Namen am Gedenkstein standen: sind etwa die hier Hingerichteten und die Umstände ihres Todes unbekannt geblieben? Und warum wissen nur wenige, was hier passiert ist? Diese Fragen stellten wir unserem Geschichtslehrer und er teilte uns Informationen von dieser Erschießungsstätte und einigen Opfern mit, über die er zu dem Zeitpunkt verfügte. Er nannte unter anderen auch den Namen von Marija Sotnikowa.
Bei der Aufnahme der Erinnerungen von Alteingesessenen aus Tscherikow an die Kriegszeit begegneten wir Igor Sotnikow und erfuhren, dass dieser bescheidene und wortkarge Mensch der Sohn der während der Besatzung hingerichteten Marija Sotnikowa ist. Wir baten Igor Sotnikow von seiner Mutter zu erzählen, aber er weigerte sich mit der Erklärung, dass das ihm weh tue, dass er einfach nicht in Erinnerungen herumwühlen möchte. Später, als wir in der zehnten Klasse Hausarbeiten zum Thema „Unsere Region in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges“ vorbereiten mussten und auf der Suche nach Dokumenten zum Thema ins Heimatmuseum des Kreises Tscherikow kamen, entdeckten wir da ein Schreiben, das von Grigori Sotnikow und einigen Augenzeugen der Erschießung seiner Frau aufgesetzt war. Wie es sich herausstellte, stammten diese Dokumente aus dem Geschichtsmuseum der Stadt Kritschew. Sie lieferten die Grundlage für die Beschreibung der Lebensgeschichte Marija Sotnikowas. Zudem erfuhren wir, dass im Archiv des Geschichtsmuseums Kritschew die Akte „Ermittlungen zu den Todesumständen von Marija Sotnikowa“ [4] aufbewahrt wird, die die Recherche des bekannten Kritschewer Heimatforschers Melnikow aus dem Jahr 1962 dokumentiert (damals gehörte die Stadt Tscherikow zum Kreis Kritschew). Im Museum, das wir zusammen mit unseren Eltern besuchten, erlaubte man uns, die dort aufbewahrten Erinnerungen der Augenzeugen und Menschen, die unsere Heldin kannten, zu nutzen. Mit den Fotokopien der Dokumente aus dem Staatsarchiv des Gebiets Mogiljow versorgte uns der Geschichtslehrer Wassili Maximenko.
Im Juni 2017 suchten wir wiederholt Igor Sotnikow auf, diesmal willigte er ein, unsere Fragen zu beantworten. Im Oktober gab es ein weiteres Treffen mit ihm, weil einige zusätzliche Fragen aufkamen. Aufgrund der Aussagen Igor Sotnikows konnte die Lage des Gefängnisses festgestellt werden, in dem seine Mutter Marija ihre letzten Tage verbracht hatte, sowie der Weg, auf dem man sie zur Hinrichtungsort gebracht hatte. Wir fuhren auch zum Friedhof, auf dem die sterblichen Überreste Marija Sotnikowas ruhen.
Das Ergebnis unserer Recherche in den vielfältigen Quellen war die Lebensgeschichte einer Frau, die ebenso wie viele Tausende andere vor allem wegen ihres Märtyrertodes in unserer Erinnerung bleibt: die 42-jährige Marija Sotnikowa wurde neben noch 260 Menschen am besagten Ort in der Umgebung von Tscherikow erschossen.
Familie Sotnikow. Vorkriegsleben
Marija Sotnikowa (geborene Iwanowa) kam am 1. April 1899 in einer Zimmermannfamilie in Tscherikow zur Welt. Von 1907 bis 1913 lernte sie in einer Hauptschule. Sie arbeitete 1915-1916 in der Strumpfwerkstatt von Indenbom in Tscherikow, ging dann nach Rostow, wo sie als Metalldreherin beschäftigt war. 1919 heiratete Marija Georgi Sotnikow [1, Bl. 5].
Aus den Erinnerungen von Stefanida Iwanowa, die Marija seit früher Kindheit kannte, wissen wir, dass diese schon als Jugendliche arbeiten musste, um das tägliche Brot für die Familie zu verdienen. Marija, so Stefanida Iwanowa, sei eine sehr hilfbereite und gütige Frau gewesen.
Georgi Sotnikow wurde 1895 im Dorf Sori, Ujesd Tscherikow in einer Bauernfamilie geboren. 1914 machte er seinen Abschluss an der Hauptschule Tscherikow, ging während des Ersten Weltkrieges an die Front, unterstützte die Revolution von 1917. In den Jahren des Bürgerkrieges diente er in der Roten Armee und war danach in verschiedenen Einrichtungen des Ujesd Tscherikow tätig. 1924 bis 1927 Jahr arbeitete Georgi Sotnikow an der Eisenbahn, wurde dann Förster und absolvierte die landwirtschaftliche Akademie in Gorki.
Während des Interviews zeigte Marijas Sohn Igor Fotos aus dem Familienarchiv und erzählte von allen Familienangehörigen: „Die Mutter war Hausfrau, der Vater arbeitete als Förster in der Forstverwaltung Tscherikow, mein ältester Bruder Anatoli machte seinen Wehrdienst, Walentin lernte, auch ich ging zur Schule und wurde vor dem Krieg mit der vierten Klasse fertig. Anatoli diente an der Ostsee, verteidigte die Hanko-Halbinsel und fiel dabei im Jahr 1941. Mein mittlerer Bruder absolvierte zehn Klassen und wurde zur Armee einberufen“ [5, Min. 04:52–05:22]. Auf einem Bild sieht man seine Eltern, den ältesten Sohn Anatoli, den mittleren Walentin und ihn, den jüngsten (am 15. September 1930 geboren). Die Schwester Alja war damals noch nicht geboren.
Flüchtlingsdasein
Am 16. Juli 1941 eroberten die Deutschen Tscherikow, dann auch Kritschew. Aber am linken Ufer des Flusses Sosch konnten die Einheiten der Roten Armee auf der Linie Kritschew–Tscherikow–Propoisk (heute Slawgorod) über drei Wochen die Stellung halten. Am 12. August begann schließlich die Zeit der hitlerfaschistischen Besatzung, die mehr als zwei Jahre dauern sollte. Vor dem Einmarsch der Deutschen, so erinnert sich Raissa Warscho (Schirkewitsch), gingen sie und Marija Sotnikowa mit ihren Kindern Igor und Alja zusammen mit den zurückziehenden sowjetischen Truppen über den Sosch nach Osten und hielten im Dorf Gorodeschnja, Kreis Klimowitschi. Von dort aus wollten die Frauen weiter, fanden sich aber zusammen mit den Rotarmisten auf dem Rückzug in der feindlichen Umzingelung.
Während sich die Soldaten im Wald aufhielten und einen Durchbruch vorbereiteten, half Marija ihnen, indem sie Lebensmittel in Nachbardörfern beschaffte und Essen kochte. Raissa Warscho beschreibt die folgende Szene: „Die Unseren hatten es nicht geschafft, Kälber aus der Kolchose wegzubringen, und nun konnten die Tiere jeden Tag den Deutschen in die Hände fallen. Als Sotnikowa davon erfuhr, sagte sie dem Offizier, dass die Soldaten die Kälber schlachten sollten, und dann heizten Marija und Olga Schirkewitsch die Öfen, kochten dort Fleisch und alle Rotarmisten konnten sich satt essen. Und so dauerte es einen Monat lang“ [4, Bl. 7].
Wie Georgi Sotnikow in seinen Erinnerungen in Anlehnung an die Worte seiner Ehefrau schrieb: „… an einem Tag, als sie [Marija] an den vereinbarten Ort im Wald kam, um einen Teil vom gebackenen Brot, Milch und noch manches zu übergeben, war keiner von den Soldaten mehr da, auch am nächsten und dritten Tag meldete sich niemand“ [3, Bl. 12–13]. Nachdem die Rotarmisten heimlich nach Osten gegangen waren, blieb Marija Sotnikowa nichts anderes übrig, als Ende August 1941 mit ihren Kindern nach Hause zurückzukehren, in die Stadt Tscherikow, wo die Besatzer schon schalteten und walteten.
Verhaftung
Marija Sotnikowa hielt mit ihrem Hass auf die Besatzer und Polizisten nicht zurück und sagte mehrmals zu den Einheimischen, „wie dem auch sei, die Unseren werden über die deutschen Faschisten und Polizisten schon siegen“ [4, Bl. 4]. Warwara Pusikowa (geborene Samoilowa) erinnerte sich an Marijas Worte, das ihr Leben mit ihren beiden minderjährigen Kindern auf dem besetzten Gebiet zwar sehr schwer sei, aber sie würde alles durchhalten, dafür, so Sotnikowa, verteidigten ihr Mann und zwei Söhne unsere Heimat an der Front.
Im Herbst 1941 ließen die Deutschen die Brücke über den Fluss Sosch wiederaufbauen. Die Arbeiter wurden vom Bauleiter Trofim Kriwolapow angeleitet. Dieser Mann war mit einer Verwandten Мarija Sotnikowas verheiratet, dazu wurde Marija 1918 zur Taufpatin seiner Tochter. Trofim Kriwolapow kam einige Male zu den Sotnikows ins Haus, führte lange Unterhaltungen und überzeugte die Frau, dass er gegen die Deutschen sei. Wie sich Igor Sotnikow erinnert, kam „dieser Kriwolapow… einige Male und bat die Mutter Menschen zu finden, um die Brücke zu sprengen. Sie schwieg aber dazu, konnte nichts antworten, aber dann, das weiß ich noch gut, als er etwa zum dritten Mal kam, willigte sie ein, dass sie Menschen dafür finden würde“ [5, Min. 02:12–03:17]. Seit diesem Gespräch mit Kriwolapow wurde seine Mutter beschattet und einige Tage später kamen die Deutschen ins Haus und verhafteten sie.
Im Gefängnis
Warwara Pusikowa erinnerte sich, dass sie und ihre Mutter Alexandra Samoilowa mehrmals die verhaftete Marija Sotnikowa besuchten. Sotnikowa wurde von einem Polizisten bewacht, der kein Einheimischer, weder Belarusse noch Russe war. Marija erzählte den Besucherinnen, dass man sie bei Verhören stark schlug, und machte sich Sorgen um ihre Kinder. Sie sagte, dass man sie mit Kriwolapow konfrontiert hatte: Kriwolapow, als er ins Zimmer eintrat, in dem Sotnikowa verhört wurde, berichtete dem deutschen Untersuchungsbeamten sofort davon, dass sie während der Flucht sowjetischen Soldaten geholfen, für diese spioniert und nach der Rückkehr nach Tscherikow mehrmals erklärt hätte, dass die Brücke, die er (Kriwolapow) baue, bald gesprengt würde. Kriwolapow fand auch einen zweiten Zeugen, der bestätigte, dass Sotnikowa von der geplanten Sprengung der Brücke gesprochen hätte. „Im Januar 1942“, sagte Pusikowa aus, „verließen zwei Menschen das Gestapo-Gebäude. Ich stand da, vor Kälte in ein Tuch eingewickelt, und plötzlich sah ich Kriwolapow, ich erkannte ihn. Er klopfte seinem Begleiter auf die Schulter und sagte: „Danke dir, Alter, dass du mich unterstützt hast, nun wird sie sich nicht herauswinden“ und marschierte mit diesen Worten schnell auf der Chaussee fort“ [4, Bl. 5].
Marija Sotnikowas Schwester Xenija Iwanowa erzählte Folgendes: „Während der Haft besuchte ich sie und sie sagte mir, dass man sie beim Verhör verprügelt und in den Keller geworfen habe. Am vierten Tag kam ich wieder zu ihr. Sie war draußen, von den Deutschen bewacht. Damals übergab ich ihr ein Paket, die Lebensmittel nahm sie jedoch nicht und meinte, sie brauche nichts, sie hätte einen Traum gesehen, wie sie in eine tiefe Grube gefallen sei und habe nicht hinausklettern können. Mehr wollte sie nicht sprechen, weinte und ging zur Seite, der Polizist führte sie in den Keller ab. Als ich sie am dritten Tag nach der Verhaftung besuchte, sagte sie mir, dass man sie Kriwolapow gegenübergestellt habe. Er hätte alles verraten, was sie ihm früher gesagt hatte, erzählte etwa, dass sie zur Brücke gekommen sei, um Späne zu sammeln, und im Beisein der Arbeiter gesagt hätte, dass die Unseren auf jeden Fall wieder kommen würden“ [4, Bl. 25].
Diese Aussagen werden auch von den Worten Igor Sotnikows bestätigt: „Mir wurde erlaubt, sie zu besuchen, sie war im Keller im Holzhaus der Kommandantur eingesperrt, man konnte sie kaum erkennen, man hatte sie schwarz geprügelt und es gelang ihr mir zu sagen, dass es Kriwolapow war, der sie verraten hatte … Na, und dann, ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, im Laufe der Woche brachten sie Marija mit einem Schlitten an den Rand des Waldes und erschossen sie“ [5, Min. 04:05–04:55].
Georgi Sotnikow befand sich zu der Zeit zu Hause. Im ersten Kriegsmonat eingezogen, musste er Verteidigungsstellungen bauen. Seine Einheit wurde bei Rschew in Russland eingekesselt. Schwer krank schaffte er es mit Müh und Not nach Tscherikow und steckte sich hier noch mit Fleckfieber an. Die Krankheit rettete ihn aber: man wollte ihn zusammen mit seiner Frau festnehmen, aber die Deutschen fürchteten sich vor dem Fleckfieber und ließen ihn in Ruhe [1, Bl. 2].
1969 beantragte Grigori Sotnikow beim Komitee für Staatssicherheit der Sowjetunion (KGB), dass Trofim Kriwolapow zur Verantwortung gezogen werden sollte, und wurde informiert, dass Kriwolapow noch 1943 festgenommen und für Verrat zu 20 Jahren Haft verurteilt worden war (das Antwortschreiben wird im Familienarchiv aufbewahrt [2]). Wie sich Igor Sotnikow erinnert, hat ein Mitarbeiter des militärischen Nachrichtendienstes SMERSch 1945 seinen Vater aufgesucht und ihn zum Verrat befragt, der zum Tod von Menschen geführt hatte. Der Mann von SMERSch erzählte, dass der Bauingenieur, der die Menschen zur Sprengung der Brücke angestiftet hatte, in Deutschland als Hauptmann festgenommen wurde, weil er 11 Menschen verraten hatte.
Hinrichtung
Am 31. Januar 1942 wurde Marija Sotnikowa schuldig gesprochen und man fuhr sie in den Wald am anderen Ufer des Sosch, zur Erschießungsstätte an der Straße nach Gronow. Der Zeuge Grigori Titow berichtete: „Ich sah, als die Deutschen sie mit dem Schlitten wegbrachten, weil sie in der Nähe meines Hauses wohnte, wie sie neben den bewaffneten Deutschen saß, laut schluchzte und „Lebt wohl, meine Kinder!“ rief. Ich konnte sehen, wie man sie über die Wiese in den Wald fuhr“ [4, Bl. 18].
Marija Tkatschjowa kehrte Ende Januar 1942 mit dem Schlitten aus dem Wald zurück, ihr Mann und sie brachten Brennholz nach Hause. Am Ende der alten Holzbrücke kam ihnen ein Schlitten entgegen, auf dem zwei Deutsche und in der Mitte ein Mann und eine Frau saßen. „Ich schaute genauer hin und erkannte die Frau, das war meine Bekannte Marija Sotnikowa. Ich sagte „Grüß dich, Marija“ und hörte als Antwort „Grüß dich und leb wohl“. Ich hatte nicht begriffen, was los war, und fragte weiter „Wohin fährt man euch denn so spät?“ und Marija gab zur Antwort „In den Tod“ und zeigte mit der Hand auf die Deutschen. Diese Antwort ließ mich stutzen. Wir fuhren weiter, dann fühlte ich plötzlich einen Antrieb und stieg vom Fuhrwerk [Anm. d. Ü.: so im Original] und lief wie getrieben auf der Straße zurück zum Wald. Kurz vor dem Wald bog ich auf die Wiese ab und ging weiter. An einem Teich … blieb ich stehen und fing an, Schilf zu brechen. Bald bemerkte ich von diesem Ort aus jenes Fuhrwerk am Waldrand halten. Durch die Bäume sah ich, wie alle, die da saßen, abstiegen und tiefer in den Wald gingen, und dann konnte ich noch sehen, wie die Deutschen auf den Mann und die Frau aus ihren Maschinenpistolen schossen“ [3, Bl. 15].
Igor Sotnikow erinnert sich: „Am 31. Januar 1942 wurde sie erschossen, es war Schneesturm, sodass die Leiche nicht zu finden war. Aber dann fand man sie in einem Graben liegen und da lag noch ein Kriegsgefangener. Beim Hochwasser im Frühling fuhr man mit einem Boot dahin, barg ihren Leichnam, brachte ihn zum Friedhof und begrub ihn da, aber nicht tief und das war’s“ [5, Min. 05:30–06:22]. Genaueres dazu findet sich in den Aussagen von Stefanida Iwanowa, die unmittelbar an den Ereignissen teilnahm: „Ihr Leichnam blieb lange unter Schnee im Graben liegen, weil die Deutschen es verboten hatten, sie zu bestatten. Erst Ende März oder Anfang April 1942 fuhren mein Mann Iwanow und Pjotr Prantikow am Abend heimlich mit einem Boot dahin und legten ihren Leichnam auf den Hügel. Ich, meine Schwester und Nikolai Iwanow, auch unter Einsatz unseres Lebens, brachten die Leiche von Sotnikowa zum Friedhof Sarowskoje und begruben sie dort, das Grab hatten wir im Voraus ausgehoben. Als wir uns gegen Morgen mit dem Leichnam dem Friedhof näherten, schossen die Deutschen auf uns, indem sie nach dem Plätschern des Wassers zielten, aber wir konnten doch, vom Gebüsch geschützt, den Friedhof erreichen. Ich will noch hinzufügen, dass Sotnikowa… einen grauen Mantel und Filzstiefel anhatte, ihr Gesicht war zerschlagen, kaum zu erkennen eigentlich, die Deutschen hatten sie mit einem Genickschuss getötet. So legten wir ihre sterblichen Überreste im Geheimen ins Grab, schütteten Erde darauf und gingen weinend vom Friedhof“ [4, Bl. 30–31].
Ort des Gedenkens
Jetzt befindet sich in der Umgebung von Tscherikow (600 Meter östlich von der Stadt) ein Gedenkstein für die während des Krieges erschossenen Bewohner der Region Tscherikow. Seiner Aufstellung regte Georgi Sotnikow an.
Am 20. März 1972 teilte er in einem Brief an den Chefredakteur der Kreiszeitung mit, dass ein ganzer Friedhof von Erschossenen in den Jahren der deutschen Besatzung hinter der Brücke über den Sosch an der Straße Tscherikow–Krasnopolje, am Waldrand entstanden war. Die Faschisten hatten verboten, die Leichen der Hingerichteten wegzubringen, die Grabstätte wurde von Raubtieren und ‑vögeln geplündert, ein Teil der Leichen bei Frühlingshochwassern weggeschwemmt. Lediglich einzelne Leichen konnten die Einheimischen heimlich bergen und auf dem Friedhof beisetzen. „Der Ort hat einen grausigen Anblick geboten“, schrieb Georgi Sotnikow, „die Menschen, die an den herumliegenden Leichen vorbeimussten, waren entsetzt. Rund dreißig Jahre später ist aber dieser Ort nach wie vor gar nicht markiert. An anderen Stätten, wo unsere Bürger erschossen wurden, hat man Mahnmale errichtet. Auch dieser Ort und die Opfer der Verräter und Faschisten, die hier liegen, müssen verewigt werden. Die Grabstätte der Erschossenen ist die Lichtung im Wald der Försterei Limenskoje, Forstquartal 2, neben der Straße Tscherikow–Krasnopolje“ [3, Bl. 10]. Aber erst nach 1978, als die Kriegsveteranen Sotnikow und Prossenzow schon das Kreiskomitee der kommunistischen Partei angeschrieben hatten [3, Bl. 45], wurde das Denkmal endlich aufgestellt.
Nach unseren Schätzungen, die auf den Archivdokumenten, der Befragung von Zeitzeugen und Verwandten der Ermordeten basieren, wurde an dieser Stelle rund 260 Menschen hingerichtet. Da es sehr lange her ist, wird es kaum möglich sein, die Namen aller hier Ermordeten zu ermitteln, und doch ist uns es in vielen Fällen gelungen. Neben den Namen der Opfer konnten wir auch die Umstände der Erschießung einiger Menschen klären.
Schlussbemerkungen
Wir gehören zu der letzten Generation, die die Zeugen der Ereignisse jener grausamen Jahre lebendig angetroffen hat. Während der Recherche für diese Lebensgeschichte konnten wir nicht nur über die Informationen in Büchern, sondern auch durch den unmittelbaren Umgang mit Zeitzeugen in die Geschichte eintauchen. Es sind unschätzbare Erfahrungen, die wir, soviel wir nur können, aufbewahren und weitergeben werden.
Wir haben viel darüber nachgedacht, ob wir etwas Wichtiges tun, indem wir zum Leben und Tod einer Frau forschen, die nichts Hervorragendes geleistet hat. Wer braucht das schon? Nicht sie braucht es, sondern diejenigen, die nichts von der Wirklichkeit des Krieges wissen. Marija Sotnikowa hat, wenn auch nicht gewollt, eine Heldentat vollbracht und diese ist ihr Märtyrertod.
Wir haben die Bewohner unserer Region mit der Lebensgeschichte von Marija Sotnikowa über einen Beitrag in der Lokalzeitung „Wesnik Tscherykauschtschyny“ bekannt gemacht. Der Ort, an dem Sotnikowa und andere Bewohner von Tscherikow erschossen wurden, ist Bestandteil der Exkursionsroute, die in der Schule unter unserer Beteiligung ausgearbeitet wurde. Auf unsere Initiative pflegen jetzt die Schüler die Umgebung des Gedenksteins. Wir wollen auch durchsetzen, dass am Denkmal eine Tafel mit den von uns ermittelten Namen und von uns gesammelten Fotos der an dieser Stelle Ermordeten angebracht wird. Die Bewahrung der Erinnerung an den Krieg muss durch konkrete Taten getragen werden. Das ist unsere Pflicht.
Quellenverzeichnis
Archiv des Geschichts- und Heimatmuseums der Oberschule Nr. 1 der Stadt Čerikov. F. 1, op. 1, d. 12 [Autobiographie von G. K. Sotnikov, Lebenslauf von M. K. Sotnikova].
Archiv der Familie von I. G. Sotnikov.
Archiv des staatlichen Heimatmuseums der Stadt Čerikov. F. 3, op. 1, d. 8.
Delo o rassledovanii obstojatel'stv gibeli Marii Sotnikovoj. Archiv des staatlichen Geschichtsmuseums Kričev. F. 2, op. 1, d. 69.
Sotnikov, Igor' Georgievič, geb. 1930, Stadt Čerikov [Videointerview im Juni 2017]. Persönliche Sammlung von Igor' Malaščenko.